„Oma, erzähl uns
die Geschichte!“ Darauf hatte Elfriede schon gewartet. Jedes Weihnachten war es
dasselbe. Erst das Abendbrot, dann die Geschichte und dann Bescherung. „Ach,
dieses Jahr ist mir gar nicht danach, die Geschichte zu erzählen!“, rief sie
theatralisch, nur um die Kleinen dazu zu bewegen, dass sie baten. Schließlich
hatte sie die Geschichte schon ihren Kindern erzählt, jetzt mit der Tradition
zu brechen und ihren Enkeln den Wunsch nicht zu erfüllen, käme gar nicht in
Frage. „Bitte, Oma, bitte!“ riefen die Acht dann auch im Chor, obwohl die
Ältesten nicht mehr so enthusiastisch wirkten. Elfriede lächelte zufrieden.
„Also gut, dann passt schön auf. Es war der erste Winter nach dem Krieg, den
man auch den Steckrübenwinter nannte.“ Adrian, der Jüngste in der Runde fragte
neugierig dazwischen: „Warum nannte man ihn Steckrübenwinter?“ „Leise, mein
lieber Adrian, ich werde es dir erklären, doch zu seiner Zeit. Also, der Krieg
war gerade beendet und mein Vater ist gleich schon zu Beginn gefallen…“ „Warum
ist er denn nicht wieder aufgestanden? Ich falle doch auch immer!“ „Adrian,
bitte, unterbrich mich nicht ständig. Gefallen heißt, dass er gestorben ist.
Schon vor langer, langer Zeit.“, fügte Elfriede hastig hinzu, als sie sah, wie
sich das kleine Gesichtchen zum weinen verzog. „Es ist nicht mehr schlimm. Komm
auf meinen Schoß, dann erzähle ich dir die Geschichte schnell weiter.“ Adrian
krabbelte auf ihre Knie und umfasste sie liebevoll mit seinen kurzen Ärmchen.
„Wir waren also zu dritt in der kleinen Wohnung in Hausberge. Mein ältester
Bruder blieb immer in Ovenstätt bei meinen Großeltern, weil wir kaum genug
Platz und Essen für uns drei hatten. In Ovenstätt betrieben die Großeltern
einen Bauernhof und dort gab es immer reichlich zu tun für ein zweites Paar
Hände und genug zu essen für einen zusätzlichen Mund. Ich war damals sieben und
wirklich aufgeregt, weil ich Weihnachten nach Ovenstätt fahren würde. Da war
ich sehr gerne, denn dort wohnten auch meine Cousinen, zwei gute
Spielgefährtinnen. Doch bis Weihnachten dauerte es noch vier Wochen, der Advent
hatte gerade erst angefangen. Wir hatten so wenig zum Leben, dass wir uns
keinen Adventskranz leisten konnten. Das bisschen Geld, das meine Mutter mit
dem Putzen bei der Bahn verdiente, gab es in Form von Lebensmittelmarken. Die
tauschten wir dann immer gegen Brot und Butter und manchmal auch gegen ein
Stück Speck. Was aber im Überfluss vorhanden war, das waren Steckrüben. Also
gab es morgens Steckrüben, mittags gab es Steckrüben und abends gab es auch
welche. Deshalb hieß der Winter Steckrübenwinter. Könnt ihr euch vorstellen nur
von Steckrüben zu leben?“ Die Kinder schüttelten den Kopf und Verena rief:
„Igitt! Mal einen schönen Eintopf, doch den ganzen Tag nichts anderes, das kann
nicht gesund sein!“ Elfriede nickte. „Deshalb hatten wir auch keine Kerzen auf
unserem Adventskranz. Ein paar Zweige hatten wir uns geschnitten und gebunden
und mit schon angeschlagenen Kugeln und Vögeln dekoriert, doch Kerzen waren zu
teuer. Eines Nachmittags in diesem Advent war ich allein zu Haus und machte
meine Hausaufgaben in der Wohnküche. Als ich fertig war, ging ich in die
Schlafstube, mehr Zimmer hatten wir ja nicht und sah dort eine Puppe sitzen.
Sie war wunderschön, hatte ein Gesicht, so niedlich wie das unseres Adrians und
ein halbes Kleid, aus selbstgesponnener Schafswolle, mit einer Spitzenbordüre
um die Puffärmelchen in der Farbe meiner rosa Strümpfe. Ich hätte sie am
liebsten sofort an mich gedrückt. Doch ich wusste, dass sie ein
Weihnachtsgeschenk war und ich traute mich nicht, sie zu bewegen, aus Angst,
meine Mutter könnte mich entdecken. Doch wie sie so da saß und mir ihre Ärmchen
entgegenstreckte, konnte ich nicht anders. Ich vergewisserte mich, dass niemand
auf dem Hausflur nach oben kam, betrat mit klopfenden Herzen das Schlafzimmer
und nahm die Puppe liebevoll in meine Arme. Das war vielleicht ein wunderbares
Gefühl! Selig musste ich sie länger gekuschelt haben, als mir bewusst war, denn
plötzlich hörte ich das vertraute Knarren, das nur meine Mutter auf der Treppe
machte. Schnell setzte ich sie wieder auf ihren Platz und mich an den Tisch.
Dort tat ich so, als sei ich in die Hausaufgaben vertieft. Als meine Mutter das
sah, scheuchte sie mich nach draußen, um mir mit den anderen Kindern den Wind
um die Nase wehen zu lassen. Glücklich lief ich die Treppe hinab. Unten traf
ich unsere Nachbarin, die Muhme Martha. Im Überschwank rief ich: „Ich weiß, was
ich zu Weihnachten bekomme! Eine wunderhübsche Puppe!“ Doch diese erwiderte,
dass ich mich bestimmt täusche. Sie wusste zufällig, dass meine Tante eine
Speckseite gegen die Puppe eingetauscht hatte und jetzt sei die Puppe hier,
damit meine Mutter für sie etwas zum Anziehen häkelte. Sie konnte doch so
wunderbar häkeln und die Tante Paula nur nähen. Dann sollte sie unter dem
Weihnachtsbaum in Ovenstätt den Cousinen geschenkt werden. Tief traurig ging
ich nach draußen. Wenn ich doch nur noch einmal mit der Puppe würde spielen
dürfen! Wie konnte ich auch annehmen, dass meine Mutter Geld für etwas übrig
hatte, das man nicht essen konnte. Meine Freundinnen freuten sich immer mehr
auf das Fest aber ich wurde immer niedergeschlagener. Die Puppe habe ich nicht
mehr gesehen, obwohl ich verzweifelt nach ihr gesucht habe. Doch auch die
traurigste Zeit geht irgendwann vorbei und wir stiegen in den Zug zum Bauernhof
der Großeltern. Alle meine Tanten und der größte Teil meiner Cousinen und
Cousins waren auf dem Hof versammelt. Es ging lustig zu, war aber auch sehr
eng. Mein Großvater hatte in der guten Stube kaum genug Platz, um den Tannenbaum
aufzustellen. Diese Kammer wurde lediglich an den Festtagen benutzt und wir
Kinder durften nur zur Bescherung hinein. Natürlich waren Kerzen am
Weihnachtsbaum, die golden brannten, als wir zur Weihnachtsfeier in das Zimmer
gerufen wurden. Ich war immer noch traurig und auch ein bisschen eifersüchtig.
Da saß die Puppe auf dem Schrank neben dem Baum. Sie hatte das gehäkelte
Kleidchen aus der naturbraunen Wolle von Großvaters Schafen an. Um die
Puffärmel und am Saum des Kleides hatte meine Mutter eine Bordüre aus dem
dünnen rosa Garn gehäkelt, aus dem auch meine Sonntagsstrümpfe waren. Die
Socken der Puppe waren ebenfalls aus diesem rosa Garn, genauso wie ihre
zierlichen, mit Watte gepolsterten Schühchen, komplett mit zwei Bommeln an den
Schnürsenkeln. Meine Mutter konnte wirklich gut mit der Häkelnadel umgehen,
denn als ich dicht an den Schrank herangetreten war, auf dem sie saß, bemerkte
ich die rosa Fäustlinge, komplett mit einem winzigen Daumen. Ich konnte meine
Blicke gar nicht mehr von ihr losreißen. Das war das schönste Spielzeug, das
ich je gesehen hatte. Mittlerweile hatten alle Verwandten einen Platz in der
Stube gefunden und es wurde kräftig gesungen. Ich hatte gar keine Freude an dem
Lied, weil ich nur daran denken konnte, dass meine Cousinen jetzt mit dieser
Puppe spielen würden. Ich dürfte sie bestimmt auch mal halten, doch war das
natürlich etwas anderes, als selbst die Puppenmutter zu sein. Dann stimmte mein
Opa „Alle Jahre wieder“ an und fast automatisch sang ich mit, weil ich das Lied
so mag. Zuerst musste ich schlucken, weil ich einen Kloß im Hals hatte, doch
dann fiel mir das Singen immer leichter, bis ich kräftig mitschmetterte. Das
Lied erfüllte mich mit einer plötzlichen Freude und ich fühlte mich im Kreis
meiner Familie so wohlig geborgen, was brauchte ich da schon eine Puppe! Als es
zu Ende war, ging es mir wieder richtig gut. Dann machte meine Großmutter die
Bescherung. Zuerst verteilte sie den Honigkuchen, den meine Mutter gebacken
hatte, um die Spannung noch mehr zu steigern. Dann holte sie eine Puppe aus dem
Schrank, die genauso aussah wie meine, nur dass sie ein genähtes Kleidchen
trug. Die bekam meine große Cousine. Dann holte sie noch so eine Puppe aus dem
Schrank. Sie hatte genau dasselbe Kleidchen an. Meine Aufregung wuchs, als sie
es der kleinen Cousine überreichte. Nun konnte die Puppe mit dem Häkelkleidchen
nur noch für mich sein, denn ein anderes Mädchen gab es in der Stube nicht
mehr! Vor lauter Aufregung habe ich nicht mehr still halten können und stand
direkt neben meiner Oma, als sie die Puppe vom Schrank herunter nahm und sie
mir in die weit ausgestreckten Arme legte. Sofort habe ich sie an mein Herz
gedrückt. Dort ist bis heute ein kleines Plätzchen für sie reserviert, obwohl
es sie schon lange nicht mehr gibt.“
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